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Das Wesen und das System des Wushus

 

Zhu Wenjun

2006

 

I. Das Wesen des Wushus

In der deutschen Sprache heißt es „chinesische Kampfkunst“, „Kampfbewegung“ oder auch „Kungfu“. In der Umgangssprache werden diese Wörter oft so verwendet, als würden sie die gleiche Bedeutung besitzen. Insbesondere vor dem Hintergrund meiner bisherigen Überlegungen haben diese Wörter „Kampf“, „Bewegung“ und „Kunst“ aber deutlich verschiedene Bedeutungen.

  • Unter Kampfkunst verstehe ich die Kunst des Kampfes.

  • Unter Kampfbewegung verstehe ich nicht eine spezifische Bewegungsausführung wie einen bestimmten Schlag oder Tritt, sondern die Bewegung des Kampfes, seine Dynamik, das Wechselwirken der Kämpfenden. Das Kampf-Geschehen ist ein lebendiger Prozess, er lebt und bewegt sich.

  • Die Bewegungskunst des Kampfes verbindet die Kampfkunst mit der Kampfbewegung. Ich verstehe sie als einen Prozess, der ähnlich wie jener Lebensprozess ist, der die Schmetterlings-Larve mit den Schmetterling verbindet.

In China benennt man die chinesische Kampfkunst als Wushu. In der chinesischen Geschichte gibt es für das Wushu aber verschiedenen Namen:[1]

  • Zum einen gibt es Boji (Kämpfen),

  • Ein anderer Name ist Jiaoli (Kraft gegen Kraft),

  • Eine weitere, fremd erscheinende Bezeichnung ist Wuyi oder Guoshi (Technik und Methode die Nation zufördern)

In der deutschen Übersetzung fallen alle diese Namen weg, lediglich das Wushu bleibt übrig. Doch aus meiner Sicht ist es nicht möglich, die eben vorgestellten Begriffe unter Wushu zusammen zu fassen: sie sind nicht Namen für die gleiche Sache! Wenn man einen Namen als einen bestimmten Begriff auffasst, dann gibt es für diesen Namen eine ganz bestimmte Bedeutung. Wenn man dagegen diesen Namen nur als Namen betrachtet, dann kann es für das Selbe verschiedene Namen geben, die dann aber alle die gleiche Bedeutung haben. Deshalb kann man die eben genannten Begriffe genauer voneinander unterscheiden.

Um sich dem Verständnis von Wushu zu nähern, möchte ich vorerst auf Wuyi eingehen. Beim Namen Wuyi steht das „Wu“ für Gewalt, das „Yi“ hingegen bedeutet Kunst. Die genaue Bedeutung Wuyi ist daher das, was man auf Deutsch als Gewalt ausübende Kunst, also als Kampfkunst benennen könnte (was ich schon zu Beginn dieses Abschnitts erklärt habe). Folge ich dieser Betrachtungsweise, dann bedeutet Wushu im Unterschied dazu jedoch etwas ganz anderes. Das „Wu“ habe ich eben schon geklärt – es besitzt die selbe Bedeutung. Das „Shu“ hingegen bedeutet Technik oder Methode. Wushu bedeutet deshalb nicht etwa „Gewalt ausübende Kunst“ (denn dafür wäre der weniger bekannte Begriff „Wuyi“ nötig), sondern „Kampf-Technik“ oder „Kampf-Methode“ – und zwar in der Weise, in der ich die Kampfbewegung erläutert habe.

Wenn man anerkennt, dass es das Wesen ist und nicht der Name, der letztendlich darüber entscheiden sollte, was für eine Sache ich wirklich als Untersuchungsgegenstand vor mir habe, dann entscheidet auch das Wesen meines Untersuchungsgegenstandes darüber, was sprachlich exakt als „chinesische Kampfkunst“ benannt werden sollte. Das Wesen der chinesischen Kampfkunst ist die Einheit von Kampf, Bewegen und der Kunst im Bewegen und Kämpfen.

Wenn das Wesen des Wushu die kunstvolle Kampfbewegung ist, dann stellt sich sofort die Frage, welcher grundlegende Unterschied zwischen Wushu und anderen bekannten Kampfsportarten wie Karate, Taekwondo usw. besteht. Besteht ein Wesens-Unterschied zwischen den verschiedenen, fernöstlichen Kampfsportarten, also einen Unterschied jenseits der einzelnen Formen des Bewegens im Karate, Taekwondo usw.?

Ich meine nicht, dass ein grundlegender Wesens-Unterschied zwischen ihnen besteht. Dabei denke ich insbesondere an den gemeinsamen historischen Ursprung dieser Kampfkünste innerhalb der damaligen gesellschaftlichen Zustände Auch denke ich an ihre spezielle Entwicklung von damals bis in die Gegenwart hinein. Besonders muss berücksichtigt werden, dass kulturelle Wechselbeziehungen immer wieder zu technischen Wechselwirkungen und Kreuzungen zwischen den verschiedenen Kampfsportarten wie Wushu, Karate und Taekwondo geführt haben. Es gibt daher keinen sogenannten „reinen Stil“ im Sinne eines kulturell unbelassen, ursprünglichen Stils. Aber die Quelle des Motivs, das Wesen kommt aus dem Mutterland. Im Falle des Wushu aus China. Das Wesen des Kampfsports – eben als sein Wesen mit seinen spezifischen Wesenszügen – ist in der Kultur und Tradition des Mutterlands herausgebildet und entwickelt worden. Es nimmt daher die Qualität der Kultur und Tradition des Mutterlands in seiner weiteren Entwicklung mit. Diese Qualität ist ihr gemeinsames Wesen, trotz aller späteren kulturellen Unterschiede.

 

II. Das System des Wushus

Ein besonderer Wesenszug des chinesischen Denkens ist die Vorstellung, dass das Sein einer Sache weder allein für sich, noch isoliert von den anderen Sachen existiert. Das Sein einer Sache wird zwar geprägt von ihrer bestimmten Zeit und ihrem bestimmten Raum, aber die Welt ist nicht nur eine äußerlich verbundende Welt. In jeder Sache gibt es neben „äußeren Verbindungen“ darüber hinaus auch „innere Verbindungen“. Im chinesischen Denken bildet diese Einheit der inneren und äußeren Verbindungen ein System heraus, welches sich in einer bestimmten Ordnung befindet.

Die chinesische Bewegungskunst des Kampfes kann man unterschiedlich betrachten. Je nachdem, worauf man bei dieser Betrachtung den eigenen Akzent legt, erscheint das System der chinesischen Bewegungskunst des Kampfes auch in verschiedenen Strukturen. Zum Beispiel:

  • Nach dem Zeitraum sieht man das ältere Wushu und das moderne Wushu.

  • Nach der Region sieht man das südliche Wushu und das nördliche Wushu.

  • Nach den Trägern sieht man das Wushu der älteren Menschen und das Wushu der jüngeren Menschen.

  • Nach der Wirkung sieht man das Kampf-Wushu und das Gesundheits-Wushu.

  • Nach den Bewegungsarten sieht man das Taolu-Wushu und Sanda-Wushu.

  • Nach den Bewegungs-Elementen sieht man Hand-Bewegungen und Fuß-Bewegungen.

  • Nach den Stilen sieht man die verschiedenen Stile des Wushu.

Betrachte ich das Wushu nach dem Unterschied Ti-Yong (Körper und Anwendung) und Tradition, dann sehe ich im System des Wushus:

  • Bewegungs-Elemente,

  • Bewegungs-Arten,

  • Traditionelle Stile.

Wenn man jenen Standpunkt einnimmt, der die Elemente und die Struktur der Sache betrachtet, dann erscheint die Sache aus Elementen mit kondensierenden Regeln zusammengesetzt. Hier kann man dann entdecken, dass das Wushu aus verschiedenen Bewegungs-Elementen zusammengesetzt ist, ohne Ausnahmen. Jedes Wushu zeigt dann in ihrer Erscheinung folgende Bewegungselemente:

  • Treten

  • Schlagen

  • Werfen

  • Greifen und Kontrollieren

Man unterscheidet ein „traditionelles Wushu“ und ein „modernes Wushu“. Unter dem traditionellen verstehe ich, dass es deutlich erkennbar zeigt, dass es von einer bestimmten Abstammung her kommt und gerade im Zustand dieser Tradition steht. Wenn man welches als Tradition betrachtet, muss diese Tradition ihre Vergangenheit und Gegenwart haben. Was in der Vergangheit und Gegenwart fließt, nenne ich als Tradition. Wenn man dagegen das moderne Wushu nur als das Wushu im modernen „Zeitraum“ auffasst, dann kann man nur zwischen dem traditionellen und modernen „Zeitraum“ unterscheiden, nicht aber zwischen dem traditionellen und modernen „Wushu“. Man sollte es deshalb so verstehen, dass zwar das Wushu in verschiedenen Zeiträumen mit verschiedenen kulturellen Qualitäten vermischt ist, dass es aber trotzdem nur deswegen „Wushu“ ist, weil in ihm das traditionelle Wesen weiterfließt.

Das traditionelle Wushu ist dadurch gekennzeichnet, dass es zwischen der Ausprägung einer bestimmten Schule und ihrer Tradition, diese beiden verbindend, immer hin- und herläuft. Wenn ich das moderne Wushu nur als das Wushu im modernen Zeitraum betrachte, dann erscheint es in als drei verschiedenen Ausprägungen:

  • als traditionelles Wushu in der modernen Zeit;

  • als modernes Wettkampf-Wushu,

  • als Wushu im Park in China, ähnlich wie der gesundheits- und freizeitorientierte Sport für Alle in Deutschland.


[1] Redaktion der Wushu-Lehrbücher der Sport-hochschule und –Fakultät: „Wushu oberer Band“, Verlag des Volkssports, 1985. S. 1-2.


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